Die Mauer muss weg!
Es stand auf ein und demselben Stück Papier, auf den Seiten vier und fünf der Süddeutschen Zeitung vom 30. September 2005: 239 Menschen starben an der deutsch-deutschen Grenze stand auf Seite fünf, weit über 2000 Menschen jedes Jahr sterben bei dem Versuch in die EU zu gelangen war auf Seite vier zu lesen.
Was wurde in den siebziger und achtziger Jahren über die bösen Kommunisten geschimpft, die an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten auf Flüchtlinge schossen. Hier zeigt der Kommunismus sein böses Gesicht – so wurde es in der Westpresse immer dargestellt. Natürlich ist jeder einzelne dieser 239 Morde eine schlimme Tragödie und kein Mensch käme auf die Idee das Einsperren von Menschen durch eine Mauer gutzuheißen. Eine Sache allerdings sollte uns stutzig machen: Während die deutsch-deutsche Mauer längst düstere Geschichte ist, sind Grenzzäune und Schüsse auf Flüchtlinge brandaktuell.
Ceutá und Melilla sind zwei kleine Hafenstädte, die an der afrikanischen Mittelmeerküste liegen aber politisch zu Spanien gehören. Weil Afrikaner, die es einmal auf spanisches Hoheitsgebiet geschafft haben, eine gewisse Chance haben in die EU einreisen zu dürfen oder sich unentdeckt weiterschleichen zu können, würden natürlich viele bitterarme Flüchtlinge sehr gerne in diese beiden Orte reisen. Dürfen sie aber nicht. Die Länder der EU, also die kapitalistischen Länder, also in der Kalter-Krieg-Sprache die Guten, haben in jeder der beiden Städte die Grenzen mit zwei Zäunen von drei bis sechs Metern Höhe, aufwendigen Anlagen zur Beleuchtung und reichlich Wachtürmen verstärkt. Diese dunkelhäutigen Mitmenschen sind nicht willkommen, sie müssen draußen bleiben. Trotzdem versuchen in jedem Jahr hunderttausende nach Europa zu gelangen. Viele wollen dazu über die spanischen Zäune klettern, was nur den Allerwenigsten gelingt. Seit Ende September haben sie neue Methoden entwickelt, rennen zeitgleich in Massen zu den Zäunen, damit es wenigstens ein paar schaffen. Die spanischen und marokkanischen Grenzschützer setzten seitdem Hubschrauber und Gummigeschosse ein, mindestens ein Dutzend Menschen – darunter ein Baby – wurde innerhalb einer Woche entweder erschossen oder zu Tode getrampelt, ein Mann riss sich beim Sprung vom Zaun die Halsschlagader auf. Und die Bilder, die wir in der Tagesschau oder den Zeitungen von diesen Tragödien sehen, zeigen in Wahrheit nur die Spitze des Eisbergs. Menschenrechtler schätzen, dass jedes Jahr über zweitausend Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa sterben, sie ertrinken im Meer, verdursten in der Wüste, sterben an Krankheiten. An der Grenze zwischen Mexiko und den USA ist es natürlich nicht anders.
Wie verzweifelt muss ein Mensch sein, um sich auf den tausende Kilometer weiten Marsch von sagen wir Uganda durch die Sahara bis nach Marokko zu machen, nur um dort die so unglaublich geringe Chance zu haben unter Lebensgefahr ein Land zu erreichen, in dem er (oder sie) nicht erwünscht ist und ständig mit Nazi-Attacken oder Abschiebung rechnen muss? Welche Zukunft sieht eine Mutter für ihr Baby, wenn sie bereit ist, beim Ansturm auf einen Grenzzaun ihr Leben und das ihres Kindes aufs Spiel zu setzen? Wie sehr muss ein Mensch leiden, um das Alles in Kauf zu nehmen?
Die Gründe für die bittere Armut in Afrika sind bekannt. Wenn auch nicht alles mit dem Wirken des bösen, reichen Nordens erklärt werden kann, so legen die Konzerne und Regierungen aus Deutschland und anderen Industrieländern doch die Grundlagen für das Elend: Die Konzerne schicken Waffen für die Bürgerkriege und erpressen die Bauern durch Saatgutpatente; Die Regierungen zahlen immer noch weit weniger Entwicklungshilfe, als sie von den armen Ländern an Kreditzinsen bekommen; durch sogenannte Hilfslieferungen und subventioniertes EU-Getreide können die afrikanischen Bauern nicht mal im eigenen Land Käufer finden. Die Folge: Die armen Länder bleiben erpressbar – so ist es politisch auch gewollt.
40 Millionen Euro Soforthilfe hat die Europäische Union wegen der Flüchtlings-Katastrophe an ihrer Grenze sofort zugesagt. Der Menschenfreund atmet auf. Gibt es jetzt Wasser und Zelte für die massenhaft in die Wüste abgeschobenen Flüchtlinge, die es über die Grenze geschafft hatten? Blödsinn und Träumerei: Das Geld wird für eine dritte Zaunlinie ausgegeben. Am Fuße dieses Zaunes werden sie wieder Stacheldraht-Rollen befestigen – wer rüber machen will, kann sich da dann aufschlitzen lassen.
Hier zeigt der Kapitalismus sein böses Gesicht. So wird es zwar in der Westpresse nicht dargestellt – aber so ist es!
„Das Mittelmeer ist zum Glück so breit, dass man nicht einfach Brücken darüber bauen kann... Nein, dieses hochmütige Europa hat nichts Heimeliges und schon gar nichts Einladendes mehr. Gerade müssen es wieder diejenigen erfahren, die in Marokko am Nato-Draht ihr Leben riskieren, einen Fuß dafür geben, um hier zu sein.“
... schreibt Hilal Sezgin, eine in Frankfurt geborene Deutsch-Türkin in der Frankfurter Rundschau.
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