6/21/2006

Delirium

Fußball-Fieber, WM-Wahnsinn, Deutschland-Delirium.



Ja ich liebe Fußball. Ja ich bin von Europa- und Weltmeisterschaften immer sehr beeindruckt, auch hingerissen...
Und doch konnte ich mich der Argumentation des netten Herrn Bott aus Frankfurt, der es - nebenbei bemerkt - bös´ mit der Wirbelsäule hat, nicht entziehen.
Vor der WM sagte ich noch zu den ganz besonders Deutschlandhassenden, die sich über die ersten beim Grillen feierlich aufgehängten Nationalflaggen errregten, "Solange sie nicht schwarz-weiß-rot sind". Inzwischen möchte ich selber die Wimpel von den Autos brechen. Ich, der ich mich in unseligen Schul-Cliquen-Zeiten der sinnlosen Zerstörung von Auto-Außenspiegeln trotz Gruppendrucks stets verweigerte.
Aber lest selbst, was der nette Herr Bott, der hofft seinen Studenten (als künftigen Herrschokraten) wenigstens sowas wie eine gewisse Sympathie für die Außenseiter dieser Welt mitzugeben, so alles weiß, vermutet und glaubt...
Den Artikel habe ich für eine hießige Lokalzeitung verfasst, was ich Euch nur sage, damit der Perspektivwechsel verständlich wird. Zum umschreiben des Artikels sehe ich keinen Anlass, außerdem läuft ja grade Mexico v. Portugal...
Film ab:

Ganz Deutschland liegt im WM-Fieber oder sogar schon im fortgeschrittenen Stadium, dem Fußball-Taumel. Ganz Deutschland? Nein, ein kleines Häufchen Aufrechter findet den WM-Overkill und die Nationalstolz-Renaissance ziemlich doof. Eine Gruppe dieser Außenseiter traf sich jetzt im KulturBahnhof mit dem Soziologie-Professor und früheren Sponti Dieter Bott, um endlich mal mit Gleichgesinnten sprechen zu können. „Unsportlichen Attacken gegen die Fußballweltmeisterschaft“ hieß die Veranstaltung und der frühere Fanprojektleiter Bott teilte kräftig aus. Aber auch die vor dem ersten Brasilien-Spiel aus ihren Wohnungen geflohenen Gäste, hatten lustige bis gruselige Anekdoten mitgebracht.
Von einer typischen Selbsthilfegruppe-Gruppensitzung unterschied sich diese Zusammenkunft allerdings dadurch, dass nicht die Teilnehmer ein Problem haben oder hatten, sondern alle anderen. Zumindest sieht das Dieter Bott so. Und wenn man dem Mann, der einst das Anti-Olympische Komitee unter dem Motto „Vögeln statt Turnen“ mitgründete, eine Weile zugehört hat, sieht man´s wahrscheinlich ähnlich. Es sei denn man gehört zu dem großen Teil der Menschen, die Fragen wie „Warum muss eigentlich beim Sport immer um jeden Preis einer gewinnen?“ nicht beantworten wollen, weil sie nur Antworten geben mögen, die sie schon mal wo gehört haben. Dieter Bott hat das bereits ausprobiert und die Fans rund um die Frankfurter Main-Arena befragt, warum sie eigentlich immer zu ihrem Land halten und nicht beispielsweise zu dem Team mit den schönsten Ballstafetten oder den schönsten Waden. Standard-Antwort war sinngemäß ein wohl durchdachtes „Dess iss halt so“.

Leute, die so viel über Sachen nachdenken, die allen Anderen Spaß machen, sind eben im Regelfall eher nicht so beliebt. Die Bild-Zeitung hat die Gruppe der Verweigerer in der Menge der WM-Fiebertaumelnden schon entdeckt – als neues Feindbild. Die Hetze gegen die wahlweise als Miesepeter oder Vaterlandsverräter gelobten und gebrandmarkten hat schon begonnen. Überhaupt die Bildzeitung – Sie ist der liebste Forschungsgegenstand von Dieter Bott, seit zehn Jahren sammelt er sie Ausgabe für Ausgabe und kann nach eigener Aussage immer noch jeden Morgen den Kopf darüber schütteln, was er da lesen muss. Köpfe werden auch an diesem heißen Sommerabend im KuBa zahlreich und häufig geschüttelt – zum Beispiel über grölende, erbrechende und brückenspringende Engländer, schwarz-rot-golden bemalte Jugendliche, die „Deutschland ist die Macht“ durch die S-Bahn brüllen, Baumärkte und Motorsport-Zeitschriften, die - irgendwie unpassend - mit dem Fußball-Großturnier werben und vieles, vieles mehr. Zugegeben es war eine Veranstaltung für Außenseiter, aber am Ende interessanter als zeitgleich einem lauffaulen brasilianischen Wunderstürmer beim faul laufen zuzugucken.

1 Comments:

Blogger Andreas Jungherr said...

Einen herzlichen Gruß an den erklärten Verfechter des gemeinsamen Spaß. Ich stimme Dir völlig bei. Dem unbeteiligten Betrachter schleicht sich der Verdacht auf, dass man die Herren mit den Fragebögen vor dem Stadium, die theoretisieren und warnend mahnen, schon von früher kennt. Sie nahmen damals schon nicht teil, als in der Schule zwar keine Nationen aber immerhin Klassen gegeneinander antraten. Damals war ihre Passivität jedoch nicht ganz freiwillig gewählt, eher aufgezwungen durch die spaßhabende, sportlich schwitzende Mehrheit. Manche Spaltungen ziehen sich also zeitübergreifend durch die Nation.

12:06 AM  

Kommentar veröffentlichen

<< Home